Erika Pahl: Eine kleine Gedankenreise über Crivitz
Der tagelange Regen sorgte dafür, dass ich nicht einmal in den Garten gehen konnte. Himbeeren, Salat, Zwiebeln und Kartoffeln, alles ist verregnet. Alle Blumen sehen traurig und zersaust aus, das konnte einem schon wehtun.
Andererseits durchsuchte ich meinen Schreibtisch, wobei mich ein Foto in die Vergangenheit katapultierte. Ich erinnere mich, dass ich in der 4. Klasse einen Aufsatz, mit dem Titel „Beschreibe deine Stadt“, zu schreiben hatte. Das war für mich damals eine unmögliche Aufgabe, zumal ich noch gar nicht so lange in Crivitz wohnte. Durch Kriegsumstände bedingt wechselte meine Familie den Wohnsitz von Schwerin nach Crivitz, sozusagen am Rande der Stadt.
Damals fand ich, dass dies keine Stadt sei. Viel zu kleine Häuser, Pumpen an den Straßen. Kühe, Schafe, Pferde wurden zeitweise durch die Straßen zu den Wiesen getrieben und ich meinte: es stank überall nach Mist.
In den Aufsatz schrieb ich damals, dass Crivitz nicht meine Stadt sei. Die Schule aber habe ich gern besucht, wenn auch durch die sehr vollen Klassen (Durchschnitt 40 Schüler) das Lernen anstrengend war. In meiner Klasse waren viele Kinder von den umliegenden Dörfern und viele Flüchtlingskinder. Alle wollten wir lernen, alle strengten sich an, auch wenn es in den Großfamilien kaum die nötigsten Schulsachen gab. Alle Lehrer waren sehr bemüht, hatten sie es in der Nachkriegszeit auch nicht so einfach, so viele Kinder zu unterrichten.
Aber es gab auch Dinge neben der Schule, wie zum Beispiel den großen Schulchor. Neben dem Schulchor gab es auch andere Aktivitäten wie Wanderungen durch die Natur, um für die Apotheken Kräuter zu sammeln; so zum Beispiel Spitzwegerich, Schafgabe, Kamillenblüten und andere Kräuter. Auch wurden Kartoffelkäfer und Larven gesammelt, um sie dann im Rathaus abgezählt abzugeben, natürlich gegen ein paar Pfennige. Bucheckern und Eicheln Wurden für die Tiere des Waldes gesammelt.
Ich erinnere mich heute gerne an die kleinen Geschäfte von Crivitz. Da gab es den Kaufmann von Walsleben in der Grünen Straße, der stets darauf achtete, dass die Lebensınittelmarken vorgelegt wurden. Auch war es üblich, dass leere Zucker-, Mehl- und Brötchentüten immer wieder mitgebracht werden mussten.
Am Ende der Straße gab es den netten Becker Bornhold. Vor seinem Geschäft bildete sich jeden Morgen eine lange Schlange. Jeder wollte die leckeren Brötchen haben.
Es gab unter anderem auch das Textilgeschäft Willy und Else Mann am Markt. Nebenbei waren sie auch Musikliebhaber. Sie warben um Schüler, um sie das Akkordeon-, das Mandolinen-, und das Gitarrespielen zu lehren. Herr Mann spielte Geige und seine Frau Klavier. Schülerinnen und Schüler meldeten sich. Frau Mann nähte für die Mädchen blaue Röcke mit weißen Tupfen und Gummizug sowie weiße Blusen. Das war dann unsere Kleidung, die wir bei Auftritten anzogen.
Mit Leiterwagen fuhren wir über die Dörfer Zapel, Barnin, Tramm und brachte volkstümliche Weisen zu Gehör. Unser Lohn war dann stets der Beifall.
Unsere Auftritte im „Volkshaus“ (jetzt ein Gebäude für „Betreutes Wohnen“) in Crivitz, Parchimer Straße, waren immer gerne gesehen. Neben unserer Mandolinengruppe traten auch die Schulchöre, Volkstanzgruppen der Schule auf sowie auch die damalige Schalmaienkappelle der Feuerwehr. Die Schalmaienkappelle war noch lange Zeit in Crivitz sehr beliebt.
Inzwischen sind Jahre ins Land gegangen, ich wohne immer noch in Crivitz mit meinem Mann, der seinerzeit aus Niederschlesien flüchten musste.
Im späteren Jugendalter hatte ich meine Meinung über unsere Stadt doch korrigieren müssen. Hier auf dem Lande hielten die Menschen mehr zusammen, halfen sich untereinander ohne viele Worte, was man heute immer noch beobachten kann.
Die Grüne Straße, in der ich seit dem 7. Lebensjahr wohne, war auch wirklich grün. Grüne Haustüren, Fensterläden, das Grün zwischen den Kopfsteinpflastern, die Bänke vor den kleinen Häusern, die Milchkannenböcke und die alten Pumpen.
Viele Kinder in unserer Straße, davon überwiegend Flüchtlingskinder, sorgten immer wieder für Spiel und Spaß auf unserer Straße. Seilspringen, Völkerball, Murmelspiel, Handstand, Kippel – Kappel.
Aus alten Fahrradschläuchen bastelten wir uns kleine Bälle und aus Blechdosen Stelzen. Alles wurde ausprobiert und gespielt. Die alten Bauern saßen abends auf ihren Bänken vor dem Haus und rauchten Pfeife.
Die nahe liegenden Wiesen, das Eichholz und der Barniner See waren immer Anziehungspunkte für jung und alt. Da war der Steg über die Beck, jetzt Amtsbach, das kleine Eichholz mit seinen Höhlen und das große Eichholz mit der Königseiche.
Es gab schon einige Originale in Crivitz, die mir immer wieder in den Sinn kommen, wenn über alte Zeiten gesprochen wird. Zum Beispiel war da Herr Dümpelfeld mit seinem Eiswagen, der an den Straßenecken klingelte, um leckeres Eis zu verkaufen. Da waren Herr Meier und Herr Pietschmann, die als Fuhrunternehmen mit ihrem Pferdewagen durch die Straßen fuhren.
Bäcker- und Milchwagen brachten ihre Ware zu den Käufern, auch über Land.
Herr Geburek war der Ausrufer der Stadt. Er hatte nur einen Arm, mit dem er an den wichtigsten Straßenkreuzungen die schrille Glocke hin und her schwang, bis sich Fenster und Türen öffneten. Energisch und laut teilte er die wichtigsten Bekanntmachungen des Bürgermeisters mit.
Heute, ja heute ist alles anders. Heute kommt das Wasser aus der Wand, nicht aus der Pumpe. Heute kannst Du so viel einkaufen wie Du möchtest – früher gab es Lebensmittelkarten, so dass der Einkauf sehr begrenzt war. Für einige Berufszweige gab es Bezugsscheine für ein paar Schuhe oder Stiefel. Heute gibt es unendlich viele Schuhe gegen andere Scheine. Auch gibt es so viele Sorten Bonbons in Tüten, die man fast nicht aufgerissen bekommt – früher waren die Bonbons beim Kaufmann im Glas und nur brave Kinder bekamen etwas Süßes. Zucker gab es nur, wenn man seine eigene Tüte mitbrachte. Die Butter wurde abgewogen, heute ist jedes Stück extra verpackt. Meine Großmutter war Landwirtin. Sie würde sich aber am meisten über die modernen Toiletten freuen, das aber möchte ich nicht weiter vertiefen.
Ich lernte in meiner Kindheit nicht nur andere Menschen kennen, sondern auch einen Teil ihrer Kulturen und Eigenheiten. Doch dann war die Schulzeit zu Ende. Unsere Klasse traf sich ein letztes Mal zur Konfirmation. Von da an ging jeder seine Wege. Ab und zu treffe ich noch Mitschüler. Doch zur Goldenen Konfirmation nach 50 Jahren und zur Diamantenen Konfirmation nach 60 Jahren, waren nicht mehr so viele gekommen.
Nach nunmehr 70 Jahren kann ich sagen: Crivitz – ist meine Stadt, wenngleich es auch am anderen Ende der Stadt noch viel zu tun gibt. Wiesen und Gärten verwildern leider durch Abfall und Gestrüpp. Insbesondere die einst schönen Wege zum Wald oder zum See laden nicht mehr zum Spazierengehen und Radfahren ein und werden doch so sehr von uns allen, auch von jungen Eltern mit ihren Kinderwagen oder älteren Menschen mit dem Gehstock oder Rollator, die am Rande der Stadt wohnen, sehr vermisst.
Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und ich beende meine kleine Gedankenreise, schaue aus dem Fenster – es regnete immer noch…
Erika Pahl
Crivitz, August 2017